Smart Restart

Brain Beats Virus

Lagebeurteilung

Value Infectious

Die folgende Grafik zeigt den Verlauf der Value Infectious und der Free_Virals. (Rohdaten hier)

Viralität

Viralität als Prozentsatz der Bevölkerung und als Wert mit X Personen an einem Ort. (Rohdaten hier)

Dunkelziffer und Geimpfte

Die folgende Grafik zeigt den Verlauf der geschätzten dynamischen Dunkelziffer und der geschätzten Anzahl der Geimpften an. (Rohdaten hier)

Menschen mit Viruskontakt

Die folgende Grafik zeigt den Verlauf der geschätzten Menschen mit Viruskontakt an. (Rohdaten hier)

Kurzbeschreibung Modellierung Covid-19 (Version 1.0 - 15.11.20)

von Martin Bäumle, Nationalrat & Atmosphärenwissenschaftler



Ausgangslage

Bereits im März habe ich ein erstes Modell entworfen, um die Entwicklung der ersten Welle zu verfolgen und dabei eine Prognose für einen «smart restart» und das Verhindern einer zweiten Welle zu modellieren. Dazu habe ich auch ein Konzept verfasst und dieses damals publiziert.

Dieses Konzept ist im Kern immer noch gültig, aber dank vielen neuen Erkenntnissen können einige Punkte vereinfacht und präziser gestaltet werden. Ein schriftliches Update wurde bisher nicht gemacht, aber die neuen Erkenntnisse aus der Pandemie flossen in mein Modell ein.

In den folgenden Monaten habe ich so das Modell verfeinert und um zwei wesentliche Parameter ergänzt. Dabei stellte sich vorgängig mir die Frage, welche Parameter für die Verfolgung und Prognose der Pandemie am meisten Sinn machen und ob sich diese gut modellieren lassen. Dabei kam ich auf die «Viralität» in der Bevölkerung, also die Anzahl Personen in einem bestimmten Land/Gebiet oder Lokalität, die aktuell ansteckend sind und mutmasslich frei zirkulieren. Dieser Parameter schien mir wesentlicher als viele andere Parameter. Aus diesem Faktor kann man auch die aktuelle Lage, das Verfeinern von Massnahmen und das aktuelle statistische Risiko einer Ansteckung abzuschätzen. Hingegen war die Modellierung nicht ganz einfach zu bewerkstelligen.

Als zweiten Wert habe ich so den «value infectous» entwickelt, der als nach- und vorauslaufender Indikator die Entwicklung beschreiben kann. Dieser beschreibt gut, ob die Pandemie eher am Entgleisen oder eher unter Kontrolle ist. Zudem kann man damit nachträglich andere Verläufe simulieren oder in die Zukunft Prognosen insbesondere der Fallzahlen – aber auch der Todesfälle - machen.

Die Viralität in der Bevölkerung und der «value infectous» als Indikatoren, welche die Situation der Pandemie beschreiben und in Varianten a) in die Zukunft rechnen lässt und b) auch die Vergangenheit abbilden kann bzw. andere Szenarien rechnen kann. Dies kann auf andere Länder oder Kantone übertragen werden. Je kleiner das Gebiet, desto weniger gute Aussagen sind möglich.

Dieses Modell wird nun fast täglich mit den aktuellen Daten gefüttert und so die Entwicklung fast real time beobachtet und in die Zukunft prognostiziert.

Ich habe aber bereits früh erkennen müssen, dass eine Modellierung aus den oder der Todesfällen bedingt oder aus den oder der Spitaleinweisungen kaum möglich ist und keine zuverlässigen Daten ergeben kann. Ich musste dies in der ersten Welle feststellen: Meine Prognose der Toten war zu tief und die Belegung der Spitalbetten erratisch. Hingegen die Prognose der Fallzahlen war ziemlich gut und wurde gegen Ende der Welle immer genauer.

Hingegen kann mein Modell heute eine Prognose für die Toten grundsätzlich modellieren (in die Zukunft mit einer Bandbreite Faktor rund 3, nachträglich aber recht genau). Aber was ich als kaum möglich betrachte ist die Modellierung der Spitaleinweisungen, da diese mit einer Bandbreite eines Faktors 3 oder mehr niemals als zuverlässige Steuer-Grösse erscheinen kann – man liegt da fast immer falsch. Und damit ist ein Fokussierung auf diesen Parameter meiner Ansicht kaum möglich, falsch und zum Scheitern verurteilt.

Grundlagen:

Das Modell ist ein rein statistisches Modell und berechnet keine Wirkung einzelner Massnahmen, unterscheidet auch nicht zwischen «Spreadern» und «wenig Ansteckenden», sondern berechnet die statistischen Resultate der Summe der Massnahmen. Man kennt aber heute die Risiken der Übertragungen besser und man kann dadurch mit «chrirurgischen» Eingriffen gezielt Ansteckungsherde reduzieren.

Als bekannte Grösse wird die Zahl der positiv getesteten ins Excel-Modell gefüttert – die Todesfälle werden zwar erfasst, aber nicht für die Modellierung berücksichtigt . Die anderen Faktoren beruhen auf Annahmen, welche aus diversen Studien herangezogen wurden oder aus Studien herausgerechnet wurden. In die Zukunft sind immer auch Schätzungen nötig, da die Zukunft grundsätzlich nicht bekannt ist. Darum rechne ich immer in Szenarien.


Parameter Dunkelziffer:

Die Dunkelziffer ist seit Beginn der Pandemie eine der wesentlichsten und umstrittensten Grössen, welche für eine gute Kontrolle über die Pandemie zwingend wäre. Trotz der Wichtigkeit wurde diese nie sauber berechnet oder nachgewiesen. Insbesondere in der Schweiz gibt es keine direkte Messung dieser Zahl (Schätzungen reichten lange von 2 bis 30). Deshalb habe ich mich aus internationalen Studien (Island, Grossbritannien, Österreich Kreuzfahrtschiff Diamond Princess u.a.) an diese angenähert (berechnet) und diese am Ende mit den Arbeiten an der serologischen Studie von Adriano Aguzzi abgeglichen. Aus diesen Daten konnte ich eine DZ bist März/April/Mai von 3-5 abschätzen (für den Kanton Zürich). In der Romandie dürfte der Wert (Bandbreite) eher höher liegen, in der Ostschweiz eher tiefer.

Dabei rechnete ich mit Annahmen, wie lange das Virus mit einem PCR-Test nachweisbar bleibt (mit Bandbreiten) konnte ich für verschiedene der Studien eine Dunkelziffer herausrechnen. Diese ergab Werte von 3 – 4 aus den diversen Studien. Mit der DZ 5 für die Schweiz gehe ich davon aus, dass ich in der ersten Welle vernünftige Annahmen getroffen habe. Ich konnte das Modell auch am Beispiel Slowakei (Reihentest anfangs November) erneut validieren.

Grundsätzlich gehe ich im Modell davon aus, dass die Dunkelziffer sich über die Zeit dynamisch entwickelt hat und auch weiter dynamisch bleibt. Meine Annahme für die erste Welle (im Mittel) ist eine Dunkelziffer von ca. 5 (dynamisch anfangs 7 oder grösser und absinken bis zum Ende der Welle mit Aufnahme des Contact Tracing auf 2.5). Über den Sommer bis ca. Ende September ¨gehe ich von den 2.5 aus. Mit dem teilweisen Verlieren der Kontrolle im Contact Tracing gehe ich von einem Anstieg auf 3-4 (je nach Szenario aus), welche bei Sinken der Fallzahlen und den wieder besseren Greifen des CT nun wieder absinken sollte. Je nach Konsequenz und Digitalisierung gehe ich auf einen Wert zwischen 1.5 und 2.5 herunter in meinen Modellannahmen. Klar unter zwei zu kommen gelingt nur mit der möglichst guten Erfassung (und dem Testen) auch der symptomlosen Fälle. Nachweislich sind mindestens 50% symptomlos bzw. deutlich asymptomatisch und werden so bis heute kaum bis nicht erfasst.



Parameter Viralität (Hauptindikator):

Grundannahme ist eine mittlere Inkubationszeit von 6 Tagen bis zum Auftreten von Symptomen bzw. bis zum «symptomlosen Ausbruch». Zudem gehe ich davon aus, dass eine Person 2 Tage nach Ansteckung (bzw. 4 Tage vor Symptomen) eine Virenlast in sich trägt, die eine Weiterverbreitung ermöglicht. Zudem gehe ich davon aus, dass eine Person bis 7 Tage «viral bleibt» nach «Ausbruch». Damit also eine mittlere Zeit von 11 Tagen, in der statistisch eine Person ansteckend ist (Quelle *1). Ich habe das zu Beginn (vor der Studie *1) von 7-8 bis 13 Tage berechnet und das verändert die Werte nicht wesentlich.

Nun werden die bekannten positiven Fälle statistisch zurückgerechnet auf den Tag der Ansteckung mit der Dunkelziffer des Tages und aufsummiert. Dabei wird aber jeweils die Anzahl Personen wieder reduziert, welche mutmasslich nicht mehr viral sind.

Von dieser potenziellen «Brutto-Viralität» werden die Anzahl «positiv gefundenen» und eine Anzahl der geschätzten «Viralen in der Quarantäne» abgezogen, um die «freie Viralität» netto zu erhalten. Hier gibt es natürlicherweise Unsicherheiten – v.a. bei so hohen Werten wie in der aktuellen 2. Welle.

Die Daten für die Isolation und Quarantäne werden jeweils mit den sporadisch gemeldeten Zahlen in Abgleich gesetzt, um die Berechnung abzugleichen. Dabei ist v.a. die «offizielle» Zahl in Quarantäne seit Wochen kaum mehr zuverlässig und es sind deutlich mehr Leute in Selbstquarantäne als in den offiziellen Statistiken, die auch immer sehr hinterherhinken und in gewissen Kantonen gar keine Werte mehr publiziert werden. Da aber nur wenige in Quarantäne später auch positiv getestet werden, wird dieser Wert/Anteil eher vorsichtig geschätzt.


Parameter «value infectous»:

Als zusätzlichen Indikator für die Modellierung der Pandemie habe ich einen «value infectous» definiert, welcher eine Aussage über die Ansteckungsrate geben soll und damit auch die Wirkung von Massnahmen, Klima, Wetter usw. zeigen soll. Dieser kann rückwirkend beobachtet werden und so eine Aussage und Indizien geben, wie sich die Pandemie entwickelt hat oder sich entwickeln könnte.

Dieser Wert wird rückwärts aus den effektiv gefundenen positiven Fällen unter Einbezug der Dunkelziffer im Verhältnis zur berechneten «Viralität» gesetzt. Dieser Parameter reagiert sehr empfindlich und schnell auf Veränderungen. Um die Volatilität etwas zu reduzieren, wird dieser Wert jeweils auf 3 Tage gemittelt. Mit dem Setzen des Wertes in die Zukunft können nun die Fallzahlen und die «Viralität» in die Zukunft modelliert werden – dies eben in Varianten mit verschiedenen Annahmen u.a. der DZ.


Resultate:

Aufgrund der Modellrechnungen konnte man bereits den ganzen Sommer ein leicht exponentielles Wachstum der Viralität ablesen, während der» value infectous» praktisch konstant (zu) hoch war und diese trotz optimalen Bedingungen im Sommer zur möglichen «Kontrolle» des Virus.

Es war damals schon klar, dass nur eine leichte Erhöhung des «value infectous» durch Spreader-ereignisse, einen Kälteeinbruch (und dann die Kombination) zu einem starken Wachstum der Fallzahlen führen würde und je nach Werte eine Explosion sehr schnell erfolgen kann. Eine zweite Welle war deshalb bereits im Sommer absehbar. Diese 2. Welle kam dann auch für mich dramatischer als noch Mitte September befürchtet bzw. ich wollte damals bewusst nicht auf Panik machen und kein worst-worst-case aufzeigen, sondern darauf hinweisen, dass man jetzt rasch handeln muss.

Die Reaktion auf die 2. Welle mit raschem Anstieg der Fallzahlen führte rasch zu Verhaltensänderungen bei einem Teil der Leute (Eigenverantwortung), dann zu Massnahmen in Kantonen und dann beim Bund. Dies zeigte dann schon im «value infectous» früh eine kontinuierliche Absenkung an (ab ca. 13.10. sichtbar, ab ca. 28.10. verstärkt) und damit ein Bremsen der 2. Welle. Der Höhepunkt wurde im Basisszenario etwas früher (3-5 Tage) und bei tieferen Fallzahlen (max. 8’000) erwartet, bleibt aber bisher im Rahmen der Annahmen.

Aktuell befinden wir uns in einer sehr fragilen Phase - der Absenkpfad des «value infectous» wird seit ca. 6.11. langsamer und könnte bereits nächste Woche und damit zu früh stoppen. Daher sind nun mehrere Entwicklungen denkbar – von einer rascheren Senkung der Viralität und damit auch der Fallzahlen bei konsequentem Verhalten über ein langsameres Sinken der Viralität und ein unsicheres Erreichen einer Entspannung bis zu einem «steady-state» auf (zu) hohem Niveau der Viralität mit laufendem Risiko eines erneuten Anstiegs der Fälle. Von einem Aufflammen möchte ich jetzt nicht sprechen, aber auch das ist leider nicht auszuschliessen.



Martin Bäumle, Dübendorf, 15.11.2020



Quellen


*1: Temporal dynamics in viral shedding and transmissibility of COVID-19, Xi He1,3, Eric H. Y. Lau 2,3, Peng Wu2, Xilong Deng1, Jian Wang1, Xinxin Hao2, Yiu Chung Lau2,Jessica Y. Wong2, Yujuan Guan1, Xinghua Tan1, Xiaoneng Mo1, Yanqing Chen1, Baolin Liao1,Weilie Chen1, Fengyu Hu1, Qing Zhang1, Mingqiu Zhong1, Yanrong Wu1, Lingzhai Zhao1,Fuchun Zhang1, Benjamin J. Cowling 2,4, Fang Li1,4 and Gabriel M. Leung 2,4